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von Menschen - für Menschen

"Was ist denn behindert?"

In der Kita St. Nicolaus in Mümmelmannsberg spielen und lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam fürs Leben
"Wieso behindert?", fragt die sechsjährige Cecil und schaut sich um. "Hier ist keiner behindert", sagt sie und tippt den Jungen neben ihr an. "Oder weisst du, ob hier jemand behindert ist?" Der Junge runzelt die Stirn. "Was ist denn behindert?", fragt er, darauf das Mädchen: "Stimmt, was heisst das eigentlich: behindert?Es ist zehn Uhr morgens in der evangelischen Kita St. Nicolaus am Mümmelmannsberg in Billstedt: draussen ragen Hochhäuser in den milchigen Dezemberhimmel, drinnen riecht es nach Lebkuchen. An einem Tisch sitzen Kinder und stechen mit Blechförmchen Plätzchen aus. Abgesehen davon, dass jedes Kind zu Hause eine andere Sprache spricht, gibt es noch einen anderen Grund, warum die Kita der Evangelischen Stiftung Alsterdorf anders ist als andere: Von den rund 120 Kindern haben zehn eine Behinderung. "Wir sind ein integrativer Kindergarten in vielerlei Hinsicht", sagt Astrid Kipp, eine der Leiterinnen: "Wir betreuen nicht nur Kinder aus 20 verschiedenen Herkunftsländern, wir betreuen auch Kinder mit den unterschiedlichsten Behinderungen", sagt sie.

Damit jedes Kind individuell gefördert wird, gibt es neben den rund 20 Erziehern auch vier Heilpädagogen sowie eine Krankengymnastin, eine Ergotherapeutin und eine Logopädin. Die Kinder lernen gemeinsam, worauf es im Leben ankommt. "Und das ist die Sprache", sagt Refika Kaya. Die türkischstämmige Erzieherin sitzt im Sprachraum und greift nach Wuschel. Wuschel ist braun und weich und von innen hohl. Die Erzieherin steckt ihre Hand in die Handpuppe, verstellt ihre Stimme und richtet Fragen an die Kinder. Unter den vier Kindern ist auch eines mit Sprachbehinderung. Doch das fällt hier gar nicht auf, schliesslich haben auch die Migrantenkinder noch ihre Probleme mit der deutschen Sprache. Anfangs habe man die "I-Kinder" nur in bestimmten Gruppen aufgenommen, erzählt Astrid Kipp, die zusammen mit ihrer Kollegin Gabriela De Cleir seit 17 Jahren die integrative Kindertagesstätte leitet. "I-Kinder, so nennen wir die 'Integrationskinder', also Kinder mit Behinderung."Doch als sich die Nachfragen häuften, ging man dazu über, in allen Gruppen Kinder mit Behinderungen einzugliedern. "Von einem diabetischen Jungen, der regelmässig gespritzt werden muss, über autistische hin zu schwerstbehinderten Kindern spielen hier alle zusammen", so Astrid Kipp.
Doch die beiden Erzieherinnen wissen auch um die anderen, um die sozialen Hindernisse, die die Kinder hier meistern müssen. "ausserdem gibt es hier mehr Risikoschwangerschaften als in anderen Stadtteilen", sagt Gabriela De Cleir. Entsprechend hoch sei die Nachfrage an integrativen Einrichtungen. Schliesslich komme es häufig vor, dass die Behinderung eines Kindes erst später festgestellt wird. Hinzu komme, dass viele der Kinder in sozial schwachen Familien aufwachsen und somit wenig Förderung erfahren. Zum einen sei es die spezielle Förderung der Therapeuten und die heilpädagogische Arbeit in den Gruppen, welche den Kindern helfe. "Doch am wichtigsten ist das Zusammenspiel zwischen den Kindern selbst", sagt Astrid Kipp. Und erzählt von einem kleinwüchsigen Jungen, der ohne Speiseröhre geboren wurde und im Alter von drei Jahren das erste Mal in die Kita kam. "Die ersten Tage und Wochen krabbelte er nur vor sich hin und spielte kaum. Heute ist er ein richtiger Wirbelwind!" Der Vierjährige, der aufgrund einer Entwicklungsstörung einem Dreijährigen ähnelt, hat sich mittlerweile mit jüngeren Mädchen angefreundet.
Und die finden gar nicht, dass er anders ist als sie. "David ist voll in Ordnung", sagt ein Mädchen. "Er ist vielleicht etwas dünner als wir", sagt sie, und ihre Freundin fügt hinzu: "Dafür hat er eine doppelt so grosse Klappe."